Freitag, 24. April 2009

Vorplanung 1

„Die Wahrheit ist, dass ich gerne im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, meine Phantasie in Gang kommen lasse und allerlei Pläne mache. Das Einzige, was mich bisher daran gestört hat, war die Zumutung, irgendwo aussteigen zu müssen, weil die Fahrt zu Ende war. Aus diesem Grunde kaufte ich die Netzkarte. So etwas könnte ich einer Freundin nicht ohne weiteres begreiflich machen. Wie gut, dass ich keine habe – schon das Erklärenmüssen behindert eine Reise.“

(Sten Nadolny, „Netzkarte“)

Vermeidung einer Erklärung und Erörterung des Ursprungs im Angesicht der bevorstehenden Fahrt

An ihrem Anfang erschienen ist sie als eine Utopie. Eine Erscheinung vollkommenen, aber durchaus hintergründigen Größenwahns, deren näheres Zustandekommen ein überwiegend falsches Licht auf meine Lebensgewohnheiten wirft.
In erschreckender Überschätzung meiner finanziellen Mittel, der Belastbarkeit meiner Physis und bei weitgehender Verdrängung der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens wettete ich im Beisein grundsolider – also trinkfester –, aber eben darum auch zweifelhafter Thekenbekanntschaften, wie viele Bahnhofskneipen man binnen Tagesfrist wohl besuchen könne, unter der Vorausgabe, von Bremen aus mindestens bis München zu kommen und das Ruhrgebiet aufgrund der gebotenen Dichte an Trinkhallen nicht einbeziehen zu dürfen.
„Fünfzehn“ hörte ich jemanden vollmundig verkünden, und die Einsicht, dass dieser Jemand wohl ich war, ging einher mit der Replik „Die Wette gilt“, womit die Sache also abgemacht war und ich voraussichtlich ruiniert. Eine Kneipenwette ist eine hochernste Angelegenheit, die Ehre des Gewinnens geht einher mit einem Freigetränk nach Art des Hauses, was in diesem Fall immerhin einen Gegenwert von 2, 50 Euro bedeutet. Die Beweiserbringung wird erfolgen anhand von Kassenbelegen und Fotos der in der Vernichtung befindlichen Getränke.

Ein Kneipenausflug beinahe nadolnyesken Ausmaßes also, doch statt einen Monat lang werde ich lediglich 24 Stunden unterwegs sein. Ich werde auch keine Kölner Museen oder Jerxheimer Bäckerstöchter besuchen, sondern die fragwürdig beleumundeten Lokalitäten an den Nebenausgängen der großen und mittleren Bahnhöfe.
Das literarische Vorbild des Unterfangens kann also nicht Ole Reuter, der „liebenswerte Taugenichts“ als dem Roman „Netzkarte“ sein, dessen relative Beliebigkeit bei Weg und Ziel zwar dem Erleben zuträglich sein mag, ein effektives Betrinken aber unmöglich macht. Auch "Der Mann, der den Zügen nachsah" von Georges Simenon kommt aus naheliegenden Gründen nicht in Frage.
Das literarische Vorbild finden wir bei Steffen Kopetzky, näher: in dessen phantastischer Erzählung „Grand Tour oder die Nacht der großen Complication“, verkörpert durch Baron Friedrich von Reichhausen. Fanatischer Uhrensammler und Alkoholiker von beeindruckender Grundsätzlichkeit, der im internationalen Nachtzugnetz des Jahres 1999 auf der Jagd nach der ersten Uhr mit mechanischer Jahrtausendanzeige ist.

Denn Zeit und Alkohol auf der einen, schienengebundene Ortsveränderung auf der anderen Seite sind die Grundparameter dieser Wette. Und natürlich umweht das gesamte Unterfangen das Sentiment der eigenen Vergangenheit, denn dem Zauber nächtlichen Aufbruchs in das lediglich durch die vage Verbindlichkeit des Fahrplans vorgegebene Erwachen an entfernten Orten bin ich schon früher nur zu gerne erlegen. Und so wird diese Reise, dieser Tagesausflug im Wortsinn, auch eine Rückkehr, vielleicht aber auch nur die Suche nach einer Zeit und den Orten, die sie ausmachten, um festzustellen, dass sie endlich nichts mehr bedeuten.

Wir werden sehen!

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