Freitag, 28. August 2009

Umsetzung 5

07.50 - 09.08 Uhr, ICE 591, Frankfurt/Main - Stuttgart Hbf

Rechtzeitig, also in dem Moment, da ICE 591 am Bahnsteig zum stehen kommt, erreiche ich nach den rundweg positiven ersten Erfahrungen mit Bahnhofskneipen auf dieser Tour den Zug. Es ist ein ICE der ersten Generation, leider vor wenigen Jahren umfassend modernisiert. Anstelle des schweren, teilweise drehbaren Gestühls laden jetzt zwar lederbespannte, aber nicht mehr ansatzweise so verschwenderisch komfortable Sitze zum Platznehmen ein. Mir gegenüber lassen sich zwei wie es scheint frisch aus der Uni entlassene Jungmanager nieder. Sie bemühen sich redlich, einen erwachsenen Eindruck zu vermitteln und diskutieren angestrengt über neueste wirtschaftliche Entwicklungen, ohne dass es so wirkt, als ob sie wirklich etwas davon verstehen. Als der Zugbegleiter die Zeitungen verteilt, entschließt sich einer für die "Welt Kompakt", sein Begleiter, dessen umständlich gestaltete Designerbrille leider nur bedingt den Eindruck eines persönlichen Stils erwecken kann, hält sich fortan hilflos an der "Süddeutschen" fest, die öffentlichkeitswirksam in Falten gelegte Stirn zeigt den Mitreisenden sehr schön, dass er im Oberstübchen hochaufmerksam an der Welt teilhat. Brav.

Ich habe nicht dein Eindruck, interessante Gespräche zu verpassen, als ich Kopfhörer aufsetze und den über mich kommenden Schlaf gewähren lasse. Leider verpasse ich darurch aber Mannheim, wo ich nach ursprünglicher Planung das zweite Gedeck des Tages einzunehmen gedachte. Vielleicht besser so!

Mich deprimiert Mannheim. Auf dem Panorama meiner persönlichen Niederlagen ist Mannheim sozusagen der höchste Berg aus der unschönsten Perspektive. Das hängt noch am wenigsten mit Mannheim selbst zusammen, es sind vielmehr die Lebensumstände des verhältnismäßig jungen Herrn Schumachers, welcher von Heilbronn kommend spätestens hier erkennen musste, das Liebe für´n Arsch ist und die von ihr Bedachte die Tränen nicht wert, die innerhalb der nächsten Monate mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch zu vergiessen sein werden.

Besser schnell weiter auf die Schnellfahrstrecke nach Stuttgart.

Dass Gott ein DJ mit verhängnisvollem Hang zu dramatisierender Akzentsetzung ist, verdeutlicht er nun mit dem Lied "L`amour tojours", welches durch seinen in meinem Leben kundigen Eingriff (und unterstützt durch die Wiedergabefunktion "Zufällig") aus den Tiefen der Festplatte gekramt und durchaus synchron mit der Fahrgeschwindigkeit abgespielt wird.

Every day and every night/I always dream that you are by my side

Zwischen Hockenheim und Vaihingen ziehen Wolken auf. Die postadoleszenten Wirtschaftsexperten vis-á-vis kriegen davon nichts mit, sie sind eingeschlafen. Offenbar haben sie sich zu lange selbst zugehört. Kann passieren!

Bei immernoch unveränderter Bewölkung kommt der ICE im Kopfbahnhof der Landeshauptstadt zum stehen, es beginnt erneut das Karussel von Ein- und Ausstieg sich zu drehen, und es wird höchste Zeit, das im Zug eingenommene Frühstück runterzuspülen. Bahnhofskneipen, wo seid ihr?

Umsetzung 4

07.02 – 07.50 Uhr, Frankfurt/Main Hbf

Frankfurt! Großer Bahnhof, hektisches Treiben. Wo könnte denn jetzt…? In der großen Empfangshalle herrscht erschreckende Betriebsamkeit. Inmitten dieser Kathedrale der Umtriebigkeit eine Lokalität der mir vorschwebenden Art ausfindig zu machen, scheint aussichtslos. Also raus, am Osteingang ist ja vielleicht was zu finden. Und in der Tat: Kaum vor der Tür des Hauptbahnhofs stehend, erfreut vis-á-vis das Gleis 25 die noch etwas müden Augen des Verfassers dieser Zeilen.

„24 Stunden Bar – 24 Hour Bar“ steht über der Tür, das scheinen mir ideale Voraussetzungen. Also rein und erstmal umsehen. Erstaunlich, wie gut besucht das Etablissement zu so verhältnismäßig früher Stunde ist. Bei der erschreckend wasserstoffblonden Dame hinterm Tresen ein Bier bestellen und fotografieren ist eines, aufgrund dieses Verhaltens von dem Herrn neben mir angesprochen werden die unmittelbare Folge.

Na bitte, warum nicht gleich so: Dienstleistungswille und Internationalität kennzeichnen Frankfurts Bahnhofsviertel. Dienstleistungswille (50 €/30 Min.) und Internationalität (Bulgarien) kennzeichneten auch weitere Gäste dieser sympathischen Lokalität...

Spanier ist er, das kann er mir grad noch erklären, und auf wiederum meine Erklärung, warum ich das Bier fotografiere, fühlt er sich, obwohl er, wie er bekundet, kaum Deutsch versteht, dazu berufen, mir einen Tequila auszugeben. Und das auf nüchternen Magen. Er scheint vollkommen wahnsinnig, was allemal ein Grund ist, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo jemand wie er besser hinpassen würde, als in eben diese Bar im Frankfurter Bahnhofsviertel. Ein respektabler Oberlippenbart umrahmt den trinkbegeisterten Mund und findet Ergänzung in einem von der Kopfhaut weit in die Defensive gedrängten, gelgefluteten Vokuhila, der seinerseits im Nacken auf eine schwere Goldkette fällt, die an der Vorderseite durch das weit aufgeknöpfte Hemd sehr schön betont wird.

Estrella - noch nie gehört, aber (dem Geschmack nach für ein Lager) ganz lecker

So ist denn er auch nicht der Grund für mich, das Gleis 25 schnell wieder zu verlassen, eher schon die weiblichen Besucher, die, ihrem Berufsbild folgend, mir Avancen machen, Wette Wette sein zu lassen, und stattdessen mit ihnen zu kommen, mich aber doch zumindest mal zu ihnen zu setzen. Wirst schon sehen, Schätzchen, es gefällt dir bei uns! Eher nicht. Die nächste Kneipe wartet.

Umsetzung 3

00.55 - 07.02 Uhr, IC 2021, Osnabrück – Frankfurt/Main – oder: Von vertrauten Gefühlen und noch kommenden Einflüssen

„Abends auf Reisen zu gehen hat etwas unabweisbar beglückendes, man kann es sich eigentlich nicht richtig erklären, aber da es anhält, vertraut man irgendwann darauf und deutet das marineblaue Gestöber ferner Wolken über dunkler belgischer Nordsee, leicht durchbrochen von stechenden Blitzen von Orange und Rot, als ein Bild der Zuversicht, kurz vor dem Aufbruch.“

(Steffen Kopetzky, „Grand Tour oder die Nacht der großen Complication“)



Nachtexpress: Intercity 2021 diente als rollende Trinkstube auf dem Weg nach Frankfurt

Mit leisem, aber vernehmbaren Zischen der Druckluftleitung der Bremsanlage kommt der nächtliche Intercity zum stehen. Die, die eine Reservierung, nicht aber einen Blick auf den Wagenstandsanzeiger geworfen haben, eilen hektisch entlang des Zuges, um ihren Wagen zu besteigen. Koffer werden gewuchtet, letzte Blicke ausgetauscht, unschlüssig gewunken. Mit dem Zugleiten der Schwenkschiebetüren ändern sich die Verhältnisse. Die, die eben noch warteten, werden zu Reisenden, werden enthoben aus dem Stand der Ungeduldigen, den sie mit denen, die sie zum Zug begleitet haben, noch teilen konnten. Mit dem Schließen der Türen mischen sich die Karten neu, es entstehen neue, wenn auch zeitlich begrenzte Gemeinschaften, und die Zusteigenden müssen sich ihren Platz in dieser Gemeinschaft der nachmitternächtlichen Ortsveränderung erst noch erkämpfen.

„Die Aufenthalte der Züge sind die riskanten Augenblicke, sie können die Reise beeinträchtigen, weil eine Veränderung geschieht, die Neuen kommen, die Anfänger, die noch Ungereisten – und dies alles in sehr kurzer Zeit gedacht."

(Peter Bichsel, Eisenbahnfahren)


Dies geschieht auch im ersten Wagen nach der Lokomotive, Wagen 12, und in den bin ich soeben eingestiegen. In seiner Glanzzeit, das muss in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, war er ein Teil der großen europäischen Luxuszüge. Trans-Europ-Express, kurz TEE, hießen die, und während ich in den großzügig bemessenen Polstern versinke, kommen mir deren Namen und Destinationen in den Sinn und wer wohl in den letzten 35 Jahren auf welchen Wegen vor mir auf den inzwischen dadurch müde gewordenen Sitzen gesessen hat. Mit dem „Helvetia“ von Hamburg nach Zürich? Mit dem „Saphir“ von Dortmund nach Brüssel? Im „Erasmus“ von Den Haag nach München? Oder gar im „Rheingold“ von Amsterdam nach Genf? So oder so, ihre Zeit ist vergangen, die meisten Fahrzeuge ausgemustert oder umgebaut, und die, die geblieben sind, verdienen sich ihr Gnadenbrot in nächtlichen Intercities. Aufbrechend in die Dunkelheit und mit dem Einsetzen der Freude über die eigenen Umstände, die die Aufregung vor dem Aufbruch zuverlässig verdrängt hat, kaum dass die Türen zugefallen sind und der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, setze ich die Kopfhörer auf und höre: Kraftwerk. „Trans Europe Express“ aus dem gleichnamigen 1977er Album.


Rendezvous on Champs-Elysees, leave Paris in the morning with TEE

IC 2021 indes verlässt nicht Paris, sondern Osnabrück, und während er das tut, fliegen die Lichter der Vororte, der Reihenhäuser und Ausfallstraßen und schließlich der Industriegebiete vorbei, und ich erlaube mir, das erste Bier im Abteil zu öffnen.

Nachtexzess: Ausgewogene Ernährung für die Fahrt - schließlich heißt es nicht umsonst, man solle ausreichend viel trinken!

Rauchen geht leider nicht mehr, was bedauerlich ist, denn ein verqualmtes Abteil bot neben der abschreckenden Wirkung auf eventuell Zusteigende auch stets die Gelegenheit, olfaktorische Hinterlassenschaften vormaliger Reisender korrigieren zu können. Ganz zu schweigen von den unverhofften Möglichkeiten mit ebenfalls rauchenden Mitreisenden ins Gespräch zu kommen, von wegen ob man mal Feuer hätte.

Mitreisende in nächtlichen Intercities sind, zumal in der ersten Wagenklasse, überwiegend erfreuliche Erscheinungen. Bei dem Versuch, sie zu kategorisieren, stellt man unweigerlich fest, dass sie alle reisen müssen. Doch haben sie nichts von der abgehetzten Routine der Berufspendler, auch scheint die Notwendigkeit der nachmitternächtlichen Ortsveränderung, auf der sie sich befinden, ihnen kein Unbehagen zu vermitteln. Man trifft selbstständige Handelsreisende, die durch die Nachtfahrt eine Hotelübernachtung sparen, Verliebte in einer Fernbeziehung, die ihr wertvolles Zusammensein bis zur Abfahrt des wirklich letzten Zuges hinausgezögert haben und noch lange nach dem Verlassen des Bahnhofes mit traurigen Blicken am Fenster des Seitenganges stehen, als könnten sie die nunmehr schmerzlich vermisste Person noch sehen. Auch begegnen einem gelegentlich Urlaubsreisende auf dem Weg zum Rhein-Main-Flughafen, und die Freude auf die schönsten Wochen des Jahres lässt sie gesprächig werden.

Auf der Bundesbahn, nachts um halb drei: Der Verfasser dieser Zeilen im nächtlichen Intercity

Vor einigen Jahren begegnete ich Lisa, das war im Gegenzug 2020, der damals noch von Passau aus verkehrte und in dem ich mich wiederfand, nachdem ich mich mit ein paar Freunden in München auf einen Nachmittag im Biergarten verabredet hatte und nun auf der Rückfahrt war. Ob sie Feuer hätte fragte ich sie auf der Höhe von Nantenbach, und das war natürlich ein Vorwand, denn zum einen sah man das deutlich, und zum anderen hatte ich – in einem weit weniger metaphorischen Sinne – selber welches. Das hätte allerdings tatsächlich nur zum Anzünden einer Zigarette gereicht.
Ob sie den vorgeschobenen Moment in meinem Anliegen erkannte, weiß ich nicht, aber sie lächelte und bot mir einen Platz an. 28 war sie und aus Osteuropa, das erkannte man an ihrem Akzent. Und an der extrovertierten Art, mit der sie geschminkt, parfümiert und gekleidet war. Diese unnachahmliche Mischung zwischen Straßenstrich und St. Moritz, die verzweifelt versucht, Grandezza zu sein und daran scheitert, indem sie doch nur die passende Ergänzung zu einer wohlmöglich gefälschten Louis-Vuitton-Handtasche abgibt. Aber hübsch war sie doch.

Lichter spiegeln sich im ruhigen Wasser des Rheins, und fast scheint es, als würde die Landschaft am stehenden Wagen vorbeiziehen, nicht umgekehrt

Begegnungen in nächtlichen Intercities finden statt unter der Annahme, dass man einander nach dem Aussteigen nicht wieder über den Weg laufen wird. Das führt zu einer intimen Offenheit, die durch die relative Enge des Abteils, in dem man sich befindet, noch verstärkt wird. Weil man sich nicht wiedersehen wird, nichts von dem Anderen weiß und in der Gewissheit ist, der Andere sieht das genauso, kommt man schnell vom obligatorischen Small-talk („Nach Duisburg sagen Sie? Beruflich?“) zu persönlichen Themen. Lisa war seit sieben Jahren in Deutschland, die typische Au-pair-Mädchen-Nummer, verstand sich allerdings mit dem Vater der Familie, die sie beherbergte, zu gut, weswegen sie fortan auf anderen Wegen versuchen musste, ihr Glück zu machen. Inzwischen war sie Vertreterin für ein Brillenreinigungsmittel, viel unterwegs, nur Hotel und Eisenbahn. Sie verdiene im Grunde nicht schlecht, aber da sie Wert auf gute Hotels und Zugfahrkarten erster Klasse lege, außerdem gepflegtes Auftreten (Prada!) wichtig sei und teures Make-up das einzige Hobby, dem sie auf Reisen nachgehen könne, blieb nicht so viel übrig. Lange wolle sie den Job auch nicht mehr machen, auch wenn sie – Ehrensache! – „immer voll Power“ gebe. Sesshaft wolle sie werden, eine Familie haben. Und in Duisburg, da habe sie einen Mann kennengelernt, Fotograf sei der, und den wolle sie nun besuchen. Deswegen der nächtliche Intercity. Sie habe auch Fotos dabei, die er von ihr gemacht habe, ob ich die sehen wolle?

Um es kurz zu machen: Ich habe Bewerbungsbilder erwartet oder solche, die man nach den Gepflogenheiten bürgerlicher Einrichtungsart auf dem Wohnzimmerschrank appliziert, und ich muss wohl zunächst ziemlich verlegen geschaut haben, als sie mir Aktfotografien vollendeter Freizügigkeit präsentierte, die entschlossen an der Schwelle zur Pornografie stehend zum finalen Schritt ansetzten. Aber hübsch war sie. Sehr sogar!

In Duisburg stieg sie aus, und weil die Ansage, dass es dazu kommen würde, erst mit dem Halten des Zuges einsetzte und wir nicht auf die Zeit achteten, reichte diese nicht mehr dazu, unsere Nummern auszutauschen, aber so waren die Regeln. Schade irgendwie.
Ein paar Wochen später ging ich, aus Hamburg von der Arbeit kommend, spätnachmittags durch den Bremer Hauptbahnhof, als ich inmitten der Bahnsteigunterführung einen Verkaufsstand für Brillenreinigungsmittel entdeckte und darin war: Lisa! In dem Bewusstsein, die Regeln unserer ersten Begegnung zu brechen, aber andererseits auch mit ungebrochener Wiedersehensfreude ,ging ich auf die geschickt ihre Reize zur Verkaufsförderung einsetzende Reisebekanntschaft zu, und obwohl die Umstände dieser zweiten Begegnung jedwede Intimität vermissen ließen, tauschten wir doch noch die Nummern aus. Sie blieb noch ein paar Tage in Bremen, wir trafen uns einige Male (mit dem Fotografen war es aus!), aber die unverhoffte Vertraulichkeit, die uns im Abteil des nächtlichen Intercities miteinander bekannt machte, blieb verborgen. Kam abhanden auf den Kilometern zwischen Duisburg und Bremen oder in den Tagen danach. Auch das sind offenbar die Regeln.

Heute Nacht sitzt mir Daniela gegenüber. Das wusste ich da noch nicht, also dass sie Daniela hieß. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie 19 und aus Lübeck. Zu welchem Ziel sie mit dem nächtlichen Intercity unterwegs sei, frage ich sie, und sie erklärt, dass sie nach Paris fahre. Sie beginne dort eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Mit der Eisenbahn fahre sie, weil das billiger sei und sie dabei keine Gepäckbeschränkungen beachten müsse. Diesen Umstand hat sie tatsächlich beeindruckend vollständig ausgenutzt: Ihren Koffer, den ich um den von ihm beanspruchten Platz einzunehmen auf die Gepäckablage wuchte, würde den Kerosinverbrauch eines durchschnittlichen Verkehrsflugzeuges tatsächlich ansteigen lassen. Das von mir angebotene Bier lehnt sie dankend ab, sie habe heute schon eines getrunken, und so erzählt sie mit schüchterner Euphorie von den Begleitumständen ihrer Reise, dass sie niemanden in Paris kenne, aber sich unheimlich auf die kommenden Begegnungen freue. Eine sehr junge Frau auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt, und beinahe bin ich geschmeichelt, ihr dabei zumindest bis Köln ein wenig Gesellschaft leisten zu können. Da nämlich wird sie umsteigen.

Aber ihr fehlt jene leichte Melancholie, die Reisende in nächtlichen Intercities zumeist auszeichnet. Nur eine sehr junge Frau auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt, den sie sicher meistern wird. Berechtigt optimistisch, aber berechenbar erscheinend und also fast ein wenig langweilig.

Wenig los in Wagen 12 - keiner, der an meinem Sechserträger teilhaben will...

Von vollkommen anderer Qualität war ein Reisender, dem ich vor etwa zwei Jahren auf demselben Zug begegnet bin. Ein Taxiunternehmer , ursprünglich aus Ägypten, der in den 80er Jahren anlässlich eines Architekturstudiums nach Ostberlin gekommen war. Auch er fuhr seinerzeit nach Köln, um bei den dortigen Ford-Werken sein neues Taxi abzuholen. Wir redeten von den reizvollen Zufällen menschlicher Begegnungen, und als ich ihm meine Geschichte mit Lisa erzählte, replizierte er begeistert eine Begebenheit, die ihm wiederfahren war. Zu Beginn seines Studiums kannte er niemanden in der großen, noch geteilten Stadt Berlin, zudem war er als Ausländer, der die Sprache nur sehr statisch und vermittels intensiver Sprachkurse beherrschte, vom Idiom der ihn umgebenen Menschen zunächst überfordert. Glücklicherweise traf er in einer Vorlesung bald auf einen jungen Mann, der ebenfalls aus Ägypten kam, und sie freundeten sich an, verlebten eine großartige Zeit, doch nach dem Ende des Studiums, welches parallel mit dem Ende der DDR verlief, verloren sie sich aus den Augen. Er ging nach Köln, wurde statt Architekt Taxifahrer, gründete eine Familie, machte sich selbstständig. Jahre später, Berlin war längst wieder vereint und schickte sich an, erneut eine Weltstadt von internationalem Rang zu werden, stand er mit seiner Frau und seinen Kindern an der Weltzeituhr vor dem Fernsehturm am Alex, um ihnen einen der Plätze seiner Vergangenheit zu zeigen. Und just, als er von seinem alten Freund aus Studententagen erzählte, stand der urplötzlich neben ihm, ebenfalls in Begleitung seiner Frau und seiner Kinder, ebenfalls um ihnen einen der Plätze seiner Vergangenheit zu zeigen. Unvorstellbar, lachte er, aber wahr! Solange das Leben solche Momente der Überraschung und der Freude für einen bereithalte, wolle er hundert Jahre alt werden, und es ist ihm zu wünschen, dass ihm das gelingt.

Inzwischen hat Intercity 2021 beinahe Dortmund erreicht.
Es geht durch nächtliche Landschaft, die durch die Dunkelheit zur Silhouette verkommt, nur manchmal aufgehellt durch die Blitze der Lokomotive, die mit 200 Kilometern in der Stunde das nächtliche Ruhrgebiet durchpflügt.
Es bauen sich Industriebauten verschiedener Verfallsstufen als geisterhafte Schatten der Vergangenheit auf der anderen Seite des Abteilfensters auf, vereinzelt illuminiert von künstlerisch inspirierten Lichtspielen an ihren Fassaden, gelegentlich unterbrochen von Leuchtreklamen hiesiger Brauereien. Ach ja, Kneipenwette. Bier. Vorher gehe ich kurz vor zum Lokomotivführer, erzähle ihm von meinem Projekt und frage, ob ich anlässlich einiger Fotos aus seiner Perspektive einen Teil der Strecke auf der Lokomotive verbringen könnte. Sein freundliches Lächeln paart sich mit der Frage, ob ich nüchtern sei, und fast ohne zu lügen kann ich bestätigen.

In Düsseldorf steige ich dann zu. Ausfahrt um kurz nach drei, die Stadt fliegt rasch vorbei ins Dunkel. Er gefalle ihm, der Dienst auf 2021, erzählt er mit leicht ins sächsische spielendem Dialekt. Großzügig bemessene Fahrzeiten, freie Strecken und ein leichter Wagenpark am Haken der rund 20 Jahre alten Lokomotive, eine entspannte Schicht, mit reizvollen Ausblicken auf Sonnenunter- und Aufgänge, insbesondere das Rheintal sei diesbezüglich immer eine Reise wert. Nur den Rhein in Flammen habe er noch nicht erleben können. Als ich ihm Nähres von meiner Wette und deren laufender Umsetzung erzähle, scheint er bestens unterhalten und merkt hochvergnügt an, dass ihm die Erreichnung des Ziels reichlich utopisch vorkomme und ich werde über Bau- und Langsamfahrstellen aufgeklärt. Einfahrend Köln grüßt neben dem allgegenwärtigen Dom noch die in vollkommener röte ausgeleuchtete Fassade des Paschas, Deutschlands größtem Eros-Center, und beides gibt ein zwar konträres, aber optisch durchaus gefälliges Ensemble ab.

Zufahrt auf (der Dom verrät´s) Köln zu nächtlicher Stunde

Am Kölner Hauptbahnhof verlasse ich die Lokomotive und finde einen deutlich leereren Wagen 12 vor. Noch kurz den Flughafen Köln/Bonn angefahren (Dort steigt dann der Rest aus) und schon ist das obere Mittelrheintal erreicht. In beinahe vollkommener Geräuscharmut gleitet unser Intercity durch die Nacht, zunächst noch auf der rechten Rheinseite. Und das ist dann doch ein wenig bedauerlich, denn Wagen 12 ist so eingestellt, dass die Abteilfenster nur bei linksrheinischer Fahrt auf das Wasser zeigen. Doch bei Koblenz wechselt er die Ufer, passiert die Rangieranlagen in Lützel und quittiert die Weichenstraßen des Hauptbahnhofs mit leichtem Schaukeln. In Szene gesetzt von der Leuchtreklame des Löhr-Centers erfolgt das endgültige Abbremsen kurz vor dem Stopp am Bahnsteig. Aussteigend, um das Rauchverbot im Inneren des Zuges zu umgehen und gleichzeitig einzuhalten, stehen nun die Fahrgäste des 2021 denen gegenüber, die – es ist beinahe halb sechs – auf das Eintreffen der Regionalbahn warten, die sie für einen weiteren Arbeitstag in ihr Büro in Niederlahnstein, ihr Touristenrestaurant in Rüdesheim, ihre Sparkasse in Boppard bringen wird. Noch etwas verschlafen, aber an diesen Zustand gewöhnt sind sie in ihre Gedanken versunken, umklammern Kaffeebecher oder Aktentaschen und blicken skeptisch gen Himmel, wo im ersten Dämmern des Morgens ein aufsehenerregendes Wetterleuchten vom aufkommenden Tag kündet.

Koblenz Hauptbahnhof in den frühen Stunden des Tages

Abfahrt, diesmal linksrheinisch. Jetzt stimmt die Ausrichtung des Wagens im Zug, zurücklehnend in die Polster des nur vom Notlicht des Seitenganges leicht beleuchteten Abteils lassen sich tausend Lichter bei ihrem gespiegelten Tanz auf der Oberfläche des Rheins beobachten, begleitet nur vom Raunen der Klimaanlage und dem gelegentlichen Wummern der Radsätze. Wunderschönes, sanftes Gleiten durch die Nacht.

"Die Luft ist kühl und es dunkelt/Und ruhig fließt der Rhein..."

Bei St. Goar grüßt der Loreley-Felsen, der viel zu sehr zu einem Bild für Deutschland hochstilisiert wurde, um in ihm die rein zufällige geologische Erscheinung zu sehen, die er genaugenommen doch nur ist. Tagsüber würden sich nun unzählige Touristen die Nasen an den Fenstern des Zuges plattdrücken und versuchen, den Felsen an der Flussbiegung durch die nicht zu öffnenden Fenster zu fotografieren.

"The sun/Blowing the moon away/Lights me up for/one more day"

Es folgen nun noch Boppard und Bingen, in Mainz ist es bereits hell und es steigen hektische Berufsreisende nach Frankfurt ein. Ende einer Nachtfahrt.

Umsetzung 2

00:12 – 00:55 Uhr, Osnabrück Hauptbahnhof – oder: Keine Bahnhofskneipe, nirgends

„Er ließ noch einmal seinen Blick schweifen. Die Tür zum Bahnsteig knarrte leise im Spiel mit einem verwirrten Nachtwind. Dann war wieder alles ruhig.“

(Georg Fenek, „Der Nachtzug“)


Eine einzige Enttäuschung, diese Stadt. Voller Optimismus, dass es ab jetzt nur aufwärts gehen könne, steige ich aus besagtem Nahverkehrstriebwagen, finde mich auf dem Bahnhofsvorplatz ein und blicke mich ratlos um. Es sollte die erste Station auf dem Weg werden. Es sollte ein verheißungsvoller Auftakt werden, ein erstes Kaltgetränk auf dem Weg durch die Nacht. Und was sehe ich? Unbeleuchtete Fassaden, menschenleere Straßen und lediglich die Jungs am Taxistand bringen etwas Leben auf den Bahnhofsvorplatz. Die würden mich – nicht ganz uneigennützig – auch da hinfahren, wo „noch was los ist“. Mein Bedarf hält sich allerdings in Grenzen, denn nach dieser Form der Nachtgestaltung steht mir nicht der Sinn. Anstelle von kühlem Bier konsumiere ich an einem Automaten noch etwas Reiseproviant. Schon in Bielefeld kaufte ich einen Sechserträger Beck´s, der nun kongenial ergänzt wird mit zwei Schokoriegeln und einer Tüte Weingummis. Auf dem Bahnsteig hat der digitale Zugzielanzeiger bereits IC 2021 angekündigt, leider, aber durchaus erwartungsgemäß, mit Verspätung. Die hält sich allerdings im Rahmen: Zehn Minuten verzögert soll er ankommen, mein Nachtexpress. Die wenigen Wartenden vertreiben sich die Zeit mit unbeholfenen Gesprächsversuchen. Eben noch schien die Ankunft, vielmehr die Abfahrt des Zuges, etwas Schlimmes für sie zu sein, denn sie, die Abfahrt, würde zur Folge haben, von Menschen, die man liebgewonnen hat, auf eine gewisse Zeit getrennt zu sein. Nun aber, da das Zeitfenster, das einem gemeinsam zur Verfügung steht, sich entgegen aller Erwartung verlängert hat, wissen sie kaum noch, was es weiteres zu sagen gibt, und aus Verlegenheit schimpfen sie über die Verspätung, meinen aber eigentlich die entlarvende Begleiterscheinung der Sprachlosigkeit untereinander. Lediglich ein bärtiger Mann, den man früher einen Stadtstreicher genannt hätte, weiß inmitten der Reisenden frommes zu deklamieren. Er, der er wohl selbst wenn er wollte, in Ermangelung liquider Mittel niemals einen Nachtzug zum erreichen ferner Ziele besteigen könnte, erfreut sich an eben diesem Umstand und schimpft die ihn notgedrungen zur Kenntnis nehmenden als gottlose Terroristen auf dem unvermeidbaren Weg in die Hölle, den er als nichts anderes als die gerechte Strafe für ihr Verhalten betrachten müsse. Bahnhöfe bei Nacht waren schon immer ein Anziehungspunkt für Verrückte jedweder Couleur. Ein Grund mehr, sich auf ihnen wohlzufühlen!

Umsetzung 1

23.09 – 00.12 Uhr, NWB 39640, Bielefeld – Osnabrück – oder: Begleiterscheinungen einer Planabweichung

„Das soll nun nicht bedeuten, dass ich Fehler oder Mängel begrüße, aber da sie nun mal unvermeidlich sind, kommt es – finde ich – immer darauf an, was man aus ihnen macht und wie man mit ihnen umgeht.“

(Steffen Kopetzky, „Marokko“)


Ok, also: Es geht los. Nicht, wie vorgesehen, ab Bremen, sondern ab Bielefeld. Vollkommen unstandesgemäß zunächst mit einem Nahverkehrstriebwagen der Westfalen-Bahn und darin in Gesellschaft von offenbar alkoholisierten, daher grundsätzlich nicht unsympathischen, aber dennoch eine gewisse Substanz vermissen lassenden Herren. Deren derangierter Jargon allerdings vortrefflich zu den lautstark über die Großraumabteile kommunizierten Themen passt: Die – sic! – unfickbarkeit gewisser, mir glücklicherweise unbekannter Damen; und die Derbheit des Ausdrucks findet kongenial Ergänzung in der nun auch nicht unbedingt vornehm zu nennenden äußeren Erscheinung der Herren. Schumacher, notieren Sie: Nahverkehrstriebwagen fortan meiden! Aber es ist ja auch nur die Vorstufe zu dem eigentlichen Unterfangen, aus Kostengründen mit dem Semsterticket zurückgelegt. Ab Osnabrück, auf dem Weg dahin befinde ich mich nämlich im Moment, werde ich ausschließlich in Fernverkehrszügen reisen –das dürfte Unannehmlichkeiten dieser Art vermeiden.
Schon eher zum Sentiment dieser Reise passt der offenbar in einer Beziehungskrise steckende Türke, der verzweifelt um Zärtlichkeit bemüht versucht, seiner Freundin Treue zu bekunden. In Ermangelung ihrer Gegenwart durch sein Mobiltelefon. Niemals habe er sie betrogen, er liebe sie doch, warum sie das nicht einsehen wolle? In Hiddenhausen-Schwerte steht er auf und steigt aus, vielleicht um ihr den Wahrheitsgehalt seiner Worte vorzuleben. Vielleicht, um sie Lügen zu strafen. Es ist dies das Reizvolle an Reisen mit der Eisenbahn. Man begegnet vielen Menschen, hat für einen kleinen Augenblick Teil an ihrem Leben und weiß doch nie, wie es weitergehen wird, das Leben. Weder das der Menschen, die man beobachtet, noch das eigene, von dem eine wirkliche Ahnung zu haben sich nun auch nicht behaupten ließe.
Beispielsweise weiß ich grade nicht, ob ich den Besuch in einer Dönerbude am Bielefelder Hauptbahnhof in erfreulicher Gesellschaft des Kommilitonen J. mit einhergehender Bierverköstigung (Wickühler) schon mitzählen darf. Abgangsbahnhof einerseits, nicht Bremen andererseits. Aber keine richtige Kneipe, sondern eben eine Dönerbude. Keine Spielautomaten, keine Jukebox, keine gestrandeten Existenzen. Aber alle angemessen erscheinenden Lokalitäten hatten bereits geschlossen, und das um kurz nach zehn. Nach einer knappen Schilderung des gegenwärtigen Planes (15 Bahnhofskneipen in 24 Stunden, mindestens bis München kommen, Ruhrgebiet zählt nicht, da zu viele Kneipen auf zu enger Fläche) stellen wir fest, beide unbedingt nach dem Studium eine Interrail-Tour nach Marokko unternehmen zu wollen. Warum dies also nicht gemeinsam tun? Möglicherweise findet dieser Blog im Jahr 2011 also eine Fortsetzung über Bahnhofskneipen in Tanger und Marrakesch. Begleiterscheinung einer Planabweichung - wäre ich ab Bremen gefahren, hätten wir dieses gemeinsame Ziel nicht ausgemacht. Marokko also. Aber zunächst: Osnabrück!

Montag, 24. August 2009

Vorplanung 2

„Es geht nichts über eine plötzliche Anwandlung jugendlichen Übermuts. Ihrer Sicht auf die Welt wird das kolossal guttun. Sie erleben ein Abenteuer, mit dem Sie Ihre Freunde auf ewig nerven können.“

(Frank Kelly Rich, „Die feine Art des Saufens“)


Unvermeidbare Empfindungen vor dem absehbaren Aufbruch zu neuen Eindrücken

Ein kompletter Schwachsinn, das alles! Weil ich meine Klappe nicht halten konnte, darum hab ich das nun vor mir. Weil ich in einer Phase, in der ich gewohnheitsmäßig zu viel Zeit mit der Kaltfusion von Gin und Tonic verbrachte, einem erfahrenen Trinker beweisen wollte, wer hier eine richtige Sauftour draufhat, kann ich nun im Internetportal der Deutschen Bahn verzweifelt versuchen, 24 Stunden so zu verplanen, dass 15 Aufenthalte mit etwa je 20 Minuten Verweildauer (Ein gutes Pils dauert sieben Minuten!) dabei abgefahren werden können. Einerseits. Vielleicht sollte ich auf minutiöse Planung verzichten, Präzision ist im Allgemeinen ja als Feind der Leidenschaft und also des Exzesses verschrien. Genau (und somit andererseits): Einfach drauf los. Ein paar Sachen zusammenraffen, den mp3-Player mit einigen Liedern bestücken und abwarten, an welchen Plätzen man auf welche Menschen treffen wird. Sich zurücklehnen in die weich gepolsterte Reihenbestuhlung eines Großraumwagens, die Landschaft am Fenster vorbeiziehen lassen und beobachten, was sich geändert hat. Wie man selbst sich verändert hat. Zwischendurch ein Bier nach Art der Gegend und einen Tag später versuchen, die Eindrücke in Ausdrücke zu verwandeln, diese hier niederzuschreiben und damit eine Wette gewinnen. Heute Nacht geht es los!

Freitag, 24. April 2009

Vorplanung 1

„Die Wahrheit ist, dass ich gerne im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, meine Phantasie in Gang kommen lasse und allerlei Pläne mache. Das Einzige, was mich bisher daran gestört hat, war die Zumutung, irgendwo aussteigen zu müssen, weil die Fahrt zu Ende war. Aus diesem Grunde kaufte ich die Netzkarte. So etwas könnte ich einer Freundin nicht ohne weiteres begreiflich machen. Wie gut, dass ich keine habe – schon das Erklärenmüssen behindert eine Reise.“

(Sten Nadolny, „Netzkarte“)

Vermeidung einer Erklärung und Erörterung des Ursprungs im Angesicht der bevorstehenden Fahrt

An ihrem Anfang erschienen ist sie als eine Utopie. Eine Erscheinung vollkommenen, aber durchaus hintergründigen Größenwahns, deren näheres Zustandekommen ein überwiegend falsches Licht auf meine Lebensgewohnheiten wirft.
In erschreckender Überschätzung meiner finanziellen Mittel, der Belastbarkeit meiner Physis und bei weitgehender Verdrängung der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens wettete ich im Beisein grundsolider – also trinkfester –, aber eben darum auch zweifelhafter Thekenbekanntschaften, wie viele Bahnhofskneipen man binnen Tagesfrist wohl besuchen könne, unter der Vorausgabe, von Bremen aus mindestens bis München zu kommen und das Ruhrgebiet aufgrund der gebotenen Dichte an Trinkhallen nicht einbeziehen zu dürfen.
„Fünfzehn“ hörte ich jemanden vollmundig verkünden, und die Einsicht, dass dieser Jemand wohl ich war, ging einher mit der Replik „Die Wette gilt“, womit die Sache also abgemacht war und ich voraussichtlich ruiniert. Eine Kneipenwette ist eine hochernste Angelegenheit, die Ehre des Gewinnens geht einher mit einem Freigetränk nach Art des Hauses, was in diesem Fall immerhin einen Gegenwert von 2, 50 Euro bedeutet. Die Beweiserbringung wird erfolgen anhand von Kassenbelegen und Fotos der in der Vernichtung befindlichen Getränke.

Ein Kneipenausflug beinahe nadolnyesken Ausmaßes also, doch statt einen Monat lang werde ich lediglich 24 Stunden unterwegs sein. Ich werde auch keine Kölner Museen oder Jerxheimer Bäckerstöchter besuchen, sondern die fragwürdig beleumundeten Lokalitäten an den Nebenausgängen der großen und mittleren Bahnhöfe.
Das literarische Vorbild des Unterfangens kann also nicht Ole Reuter, der „liebenswerte Taugenichts“ als dem Roman „Netzkarte“ sein, dessen relative Beliebigkeit bei Weg und Ziel zwar dem Erleben zuträglich sein mag, ein effektives Betrinken aber unmöglich macht. Auch "Der Mann, der den Zügen nachsah" von Georges Simenon kommt aus naheliegenden Gründen nicht in Frage.
Das literarische Vorbild finden wir bei Steffen Kopetzky, näher: in dessen phantastischer Erzählung „Grand Tour oder die Nacht der großen Complication“, verkörpert durch Baron Friedrich von Reichhausen. Fanatischer Uhrensammler und Alkoholiker von beeindruckender Grundsätzlichkeit, der im internationalen Nachtzugnetz des Jahres 1999 auf der Jagd nach der ersten Uhr mit mechanischer Jahrtausendanzeige ist.

Denn Zeit und Alkohol auf der einen, schienengebundene Ortsveränderung auf der anderen Seite sind die Grundparameter dieser Wette. Und natürlich umweht das gesamte Unterfangen das Sentiment der eigenen Vergangenheit, denn dem Zauber nächtlichen Aufbruchs in das lediglich durch die vage Verbindlichkeit des Fahrplans vorgegebene Erwachen an entfernten Orten bin ich schon früher nur zu gerne erlegen. Und so wird diese Reise, dieser Tagesausflug im Wortsinn, auch eine Rückkehr, vielleicht aber auch nur die Suche nach einer Zeit und den Orten, die sie ausmachten, um festzustellen, dass sie endlich nichts mehr bedeuten.

Wir werden sehen!